Dieser Artikel erschien ursprünglich in der zweiten Version meines Weblogs, uninformation.org Vers. 1, das von Dezember 2006 bis Juni 2009 aktiv war, und wurde hier aus blognostalgischen Gründen archiviert. Neue Artikel hat die aktuelle Blogversion im Angebot.

re:publica 08: »Erinnern wir uns des Vergessens.«

Die re:publica hat begonnen. Viktor Mayer-Schönberger hielt die Keynote der re-publica. Er widmete seinen Vortrag der Telekom für die Reservierung einer Grundfarbe als Markenzeichen. ;)

Die Keynote unter dem Titel »Nützliches Vergessen. Informationsökologie im digitalen Zeitalter« drehte sich um die Probleme die entstehen können, wenn man Sachen ins Web stellt, wie »betrunkene Fotos« oder alte Geschichten. Illustriert an zwei Beispielen einer Lehrerin, die von ihrem MySpace-Foto aus dem Lehramt gekickt wurde und eines Herrn, der wg. Schilderungen von Drogenerlebnissen nicht in die US of A einreisen durfte. Das Problem: Google vergisst nichts, zeichnet alle Suchen auf, Google weiß mehr über Dich als Du selbst. ;)

Der Mensch besitzt ein »biologisch determiniertes Vergessen«. Die große Epen der Menschheit entstanden aus Weitererzählen und Vergessen: »Vergessen : Erinnern«. Vergessen war die Norm, Erinnern die Ausnahme. Biologisches Vergessen entsorgt den Erinnerungsmüll. Google und Co dagegen erinnern sich an alles: Aus dem biologischen Vergessen wurde technisches Erinnern.
Daten sammeln alleine reicht bekanntlich nicht. Diese Erfahrung musste die Stasi machen. Die Kunst ist das Wiederfinden, was die Technik von heute relativ problemlos ermöglicht.

Der Mensch muss lernen, damit umzugehen: Bsp. ist eine Dame die alte in ihrer Wortwahl fiese E-Mails von einem Herrn löscht, weil der sich geändert hat und sie nicht mehr an dessen übles Wesen vergangener Zeiten erinnert werden möchte. Mayer-Schönberger: »Wenn wir nicht vergessen können, können wir nicht mehr rational entscheiden.«

Was also dagegen tun? Traditionelle Ansätze waren:

1. Technische Regulierung: Die Verwendung von Technologie und ihr »Vergessen« wird vorab eingeschätzt und kontrolliert. Die Nutzung wird verboten und nur in Ausnahmefällen erlaubt. Das war der Regulierungsansatz vergangener Zeiten, der gescheitert ist, weil es nicht mehr nur eine überblickbare zentrale Anzahl von informationsarbeitenden Stellen gibt.

2. Betroffenenrechte: Kontrolle der Einhaltung von Betroffenenrechte, Ergebnis: »Ein Volk von Kontrolleuren.« Das Problem: Sind politisch teilweise nicht durchsetzbar, und wenn sie in Datenschutzrechten formuliert werden sind sie vielfach nicht durchsetzbar. In 15 Jahren Bundesdatenschutzgesetz ist bisher kein enziger Fall von Schadensersatz wg. Verstöße dagegen bekannt.

3. Informationsökologie: Die Datensammlungen begrenzen: Zweckbindung, Löschungsnormen. Problem: Durchsetzbarkeit, Mayer-Schönberger: »Wenn der Staat keinen Datenschutz mehr will, wird Datenschutz nicht mehr durchgesetzt und die Menschen verwundbar«. Ein Beispiel dafür: Ein Niederländisches Bevölkerungsregister für den Sozialstaat wurden von Nazis als Datenquelle für Holocaust verwendet. Und das Problem seit 9/11: »Löschen ist out«

Die traditionellen Ansätze helfen also nicht. Die Lösung für uns Betroffene: Alternative Ansätze.

1. Digitale Enthaltsamkeit: Wer nichts ins Internet stellt, braucht nichts fürchten. Aber ist das erstrebenswert? (2 von 3 Jugendlichen in den USa stellen Informationen online.)

2. Volle Kontextualisierung: Die Speicherung fast aller Informationen. Weil nicht alle Infos im Kontext zugänglich sind, entstehen Probleme. Also alles einfach alles speichern, dann ist der Kontext da und Vergangenes kann eingeordnet werden. Die Konsequenz ist eine gläserne Gesellschaft. (Wie Jeremy Benthams Panoptikum)

3. Kognitive Revolution: Menschen müssen lernen, mit der Omnipräsenz von Informationen umzugehen. Gute Idee, aber ist das realistisch und machbar? Mayer-Schönberger meint: Unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen.

4. Regulierung durch Technik (Lawrence Lessig): Eigentumsrechte an persönlichen Informationen für die Betroffenen. Eine Verwendung nur im vereinbarten Rahmen möglichen. Erfordert ein »Privacy DRM«. Das aber, so Mayer-Schönberger, würde in einer »Perfekten Überwachung zum Schutz der infomrationellen Privatsphäre«.

Mayer-Schönberger: »Ich plädiere für die Wiedereinführung des Vergessens.« Dazu schlägt er ein »Verfallsdatum für Informationen« vor. Die Nutzer legen fest, wie lange digitale Informationen gespeichert werden soll, und die Speicherdauer kann jeder selbst festlegen.

Praxisbeispiele dazu:

  • Suchanfrage: Darf nur in einem definierten Zeitraum von Google verwendet werden. In gewissen Fällen sinnvoll. Wenn man vier Monate in Google forscht, macht es Sinn, suche man aber nur den leckeren Wodka vom letzten Wochenende, macht dauerhaftes Speichern aber einen Sinn. (ask.com hat so etwas in der Art, sagt Mayer-Schönberger.)
  • Digitalfoto: Das Recht am eigenen Bild. Ein RFID-Chip am Mann mit zwei Einstellungen: Verfallsdatum oder dauerhaft speichern, wird an Kamera des aufnehmenden übergeben.

Das Regulierunsgspektrum für eine Lösung sieht so aus:

1. Die Möglichkeit der Wahl.
2. Stete Konfrontation mit der informationellen Endlichkeit. Information ist nicht zeitlos gültig, sondern hat einen zeitlichen Kontext.

Mayer-Schönberger Schlusswort: «Vergessen gerät zunehmend in Vergessenheit: Erinnern wir uns des Vergessens.«

Eine gute Keynote zum auftakt der re-publica, mit einem klaren roten Faden und einer richtigen Botschaft. So kann es weitergehen.

[Nachtrag] Golem hat ein Interview mit Viktor Mayer-Schönberger zu diesem Thema.



1 Kommentar


404 am 09.04.2008:


Klasse Zusammenfassung!

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