Kindle — Die Zukunft des Lesens?
Das handliche kleine Gerät voller Wissen und Weisheit, in das Captain Picard hinein starrte und irdische Buch-Klassiker aus einer riesigen digitalen Bibliothek las, in der Hoffnung, aus diesen Ratschlag und Legitimation für sein imperialistisches Handeln zu gewinnen, gilt auch heute noch als Inbegriff Realität gewordener Science-Fiction. Deshalb ist das »digitale Buch« der Heilige Gral der Computertechnik.
Der nächste Versuch dahin: Der »Kindle«. (Ich hoffe, der Name klingt im Englischen nicht so bescheuert wie auf Deutsch. ;-)) Ein wahrlich nicht sonderliches schönes Lesegerät, das Lesevergnügen ohne das Schleppen schwerer Stapel toter Bäume verspricht. Lesen darf man darauf aber nur Amazons eigene elektronische Bücher. Die Zeiten sind vorbei, in welchem man ein Buch in der Hand hielt und sagen konnte: »Mein Buch«. Mit dem Kindle bekommt man DRM verseuchte E-Books von Amazon zur Verfügung gestellt. Diese darf man lesen. Und das war es auch schon an Rechten, Mark Pilgrim hat das wunderbar gegenüber gestellt. Früher galt, in den Worten von Amazons Jeff Bezos aus dem Jahre 2002 (zit. nach Pilgrim):
When someone buys a book, they are also buying the right to resell that book, to loan it out, or to even give it away if they want. Everyone understands this.
Davon will man im selben Hause 2007 nichts mehr wissen (Amazon, Kindle Terms of Service, zit. nach Pilgrim):
You may not sell, rent, lease, distribute, broadcast, sublicense or otherwise assign any rights to the Digital Content or any portion of it to any third party, and you may not remove any proprietary notices or labels on the Digital Content. In addition, you may not, and you will not encourage, assist or authorize any other person to, bypass, modify, defeat or circumvent security features that protect the Digital Content.
Wie es DRM-Diensten so eigen ist, zeichnet der Kindle-Dienst sämtliche Aktivitäten des Kindle-benutzenden Kunden auf und kann die Nutzung der Bücher durch den Kunden auf Knopfdruck beenden.
Schöne neue Welt. Da gehen sie dahin, die naiven Science-Fiction-Träume. Der Kindle ist nicht nur ein anderes Medium, ein Tausch digitales Gerät vs. tote Bäume. Es ist vielmehr der Versuch eines Wandels des jahrhundertealten Kulturguts Buch hin zu kostenpflichtigen »Content«. Buch lesen und dann verschenken? Nö. Buch lesen und dann in Bookcrossing aussetzen? Nö. Buch Deiner Freundin zum Lesen auf ihr Gerät geben? Nö.
Echo: Viel zu naiv technokratisch von Anil Dash. Ein Verriss von »Indiskretion«, der das Gerät an den falschen Stellen zerreisst. Und eine techno-affirmative Hymne von Neunetz, die den kulturellen Wandel durch DRM als eine Randerscheinung des Fortschritts verniedlicht.
Die Zukunft des Lesens? So nicht. Der Kindle ist ein dreister Versuch, das gute alte Buch in die abzockende Verwertungskette von DRM–Kontrollfreaks zu ziehen. Und das ausgerechnet von einem Unternehmen, das seine Millionen mit eben jener freien Handelbarkeit des Gutes »Buch« gemacht hat.
Die Zeitung wird immer mehr ins Netz wandern. Ich lese auch nur noch digital, weil mir der regelmäßige An- und Abtransport von Papier zu aufwändig ist. Aber ich halte jede Wette, dass auch in 100 Jahren der gute alte »Moby Dick« (Abb. oben) noch auf Papier gelesen wird. Darum wird der Versuch, mit dem Kindle als »iPod des Lesens« einen ähnlichen Paradigmenwechsel auszulösen, zum Scheitern verurteilt sein. Glücklicherweise…
[Nachtrag 25.11.2007] O’Reilly-Radar hat ein paar Stimmen, die sich nicht auf orgiastische Technik-Apologetik beschränken sondern mehr in Richtung »Kultur« denken. Aber trotzdem unsinnig sind. So wird zum wiederholten Male das angebliche proprietäre Format von Apple für Musik auf dem iPod als Beweis für die Folgerichtigkeit der Kindle-Lösung angeführt.
Nur: Häufiges Wiederholen macht »falsch« nicht »richtig«. Der iPod hat kein proprietäres Format. Es steht jedem iPod-Benutzer frei, Musik aus beliebigen Quellen drauf zu hauen. Und damit stürzen diese Vergleiche ein wie ein Kartenhaus im Durchzug.
[Nachtrag 28.11.2007] »A Brief Message« setzt den Schlusspunkt: »PEOPLE DON’T WANT TO READ BOOKS ON A SCREEN.«