Wann immer in der Welt etwas Schlimmes passiert, trompetet es durch das Netz: »Jaaaa, wir hier im Web 2.0 sind ja soooooo viel schneller als diese ganze komischen langsamen Hanseln in den alten Medien.« "Twitter":http://twitter.com, everybody's web darling - zumindest, wenn es gerade nicht an Skalierungsschmerzen leidet - wird in diesem Zusammmenhang "stets besonders lobgepriesen":http://www.google.com/search?client=safari&rls=de-de&q=Twitter+schneller+medien&ie=UTF-8&oe=UTF-8. Ob "Erdbeben in China":http://www.gulli.com/news/erdbeben-in-china-twitter-2008-05-14/ oder "Rauch über Berlin":http://bluelectric.org/2008/05/15/brechende-nachrichten/, über Twitter erfährt man sofort davon.
Die Frage ist nur: Was habe ich davon, ist Geschwindigkeit überhaupt eine unumstrittene Tugend auf dem weiten Feld der Information?
Rückblende: 2002, der so genannte »11. September« war noch frisch. Drei- bis viermal im Monat gab es auf dem (oft auch »so genannten«) Nachrichtensender n-tv ein journalistisch entwürdigendes Spektakel zu bewundern. Wann immer in den USA irgend etwas passierte, bspw. ein brennendes Auto an einem Flughafen (was dann letztendlich nur ein Unfall war), wischte n-tv sein Programm beiseite und hing sich, ganz Zweitverwerter, an die stundenlangen Übertragungen der sensationslüsternen amerikanischen TV-Networks, offenkundig von der Hoffnung beseelt, das »nächste große Terror-Ding« live auf dem Sender zu haben. Letztendlich aber wurde eine Menge Sendezeit für irrelevantes Zeug geopfert.
Zurück in das Jetzt. Es ist die Zeit des »benutzererzeugten Inhalts«, und wenn Frau oder Herr Bürger, ausgestattet mit technischem Equipment zur direkten Übertragung in Ton, Wort und Bild, etwas Aufregendes erlebt, so geben sie in der Regel dem Drang nach, der Welt davon zu erzählen. Und in den Zeiten 2.0 kann man »der Welt davon erzählen« durchaus wörtlich nehmen.
Aber es hat einen guten Grund, dass nicht für alles und jedes die Programme unterbrochen werden: Es geht nicht nur um Geschwindigkeit, sondern auch um Fakten sammeln und Einordnen des Geschehens. Ohne natürlich die Opfer verhöhnen zu wollen (man weiss ja, alle kriegen alles in den falschen Hals), aber es ist egal, ob ich von einem Erdbeben in China jetzt, in der nächsten Tagesschau oder erst am nächsten Morgen aus der Zeitung erfahre. Dass Twitter schnell ist, ist schön. Aber wertlos, so lange der Bürgerjournalimus 2.0 nicht einordnet, sondern lediglich die »Klein-Fritzchen erlebt auch mal etwas Aufregendes«-Perspektive durch die technischen Möglichkeiten in die ganze Welt befördert. Das Glorifizieren der Geschwindigkeit ist lediglich ein Berauschen an der plötzlich zufallenden technischen »Macht«.
So weit, so gut. Man muss lernen, im Kult des Schnellen Dinge zu ignorieren.
Was aber viel schlimmer ist: Dieses »schnell schnell, was Aufregendes!«-Gehabe ist schon lange auf den »richtigen« Journalismus übergesprungen. So krass, dass "sich die deutschen Auslandskorrespondenten in einem Buch über diese Mentalität beschweren":http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/medien/?em_cnt=1343539. Ein Zitat aus dem "FR-Artikel darüber":http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/medien/?em_cnt=1343539:
bq. »So berichtet Jörg Armbruster, der bis 2005 für die ARD im Nahen Osten war, wie ihn ein Tagesschau-Redakteur aus dem Bett klingelte. Gegen zwei Uhr morgens habe der von einem Anschlag erzählt. Eine Diskothek brenne, Hotels seien zerstört und westliche Touristen getötet worden. ›Mein Einwand, ich müsse mich erst einmal informieren, zählte wenig‹, schreibt Armbruster. Hamburg habe ihm die ersten Informationen einfach durchgegeben, die er dann als ›Jörg Armbruster live aus Kairo‹ ausgab.«
So läuft das, und das ist untragbar. Kann man das Werten von Geschwindigkeit als Primärtugend den Laien im Web verzeihen, geht das bei Journalisten nicht. Geschwindigkeit mag eine Tugend sein. Aber Informationsqualität ist auch eine. Und nicht einmal die unwichtigere. Es ist an uns Zuschauern, diese Qualität einzufordern und zu honorieren.
Im Radio ist das ja auch immer besonders auffallend. Da kommen immer erstmal schnell irgendwelche Skandalmeldungen, die dann eine halbe Stunde später wieder revidiert werden müssen.
Trotz der (sicherlich berechtigten) Kritik an Tagesschau ist es da mal interessant, über den Tag die Top-Schlagzeilen aus den Radionachrichten mit denen der Tagesschau am Abend zu vergleichen. Da sind viele Themen, die "schnell mal" als wichtig erachtet wurden gar nicht mehr drin.
Ich denke, das kommt drauf an, welchen Sender Du hörst. Es gibt ja diese lokalen »Das Schlimmste der 70er,80er,90er und der Abfall von heute«-Wellen, für die schon eine Katze auf einem Baum ein gewaltiges Event ist. Da man bei berufslustigen Kommerzradioplaudern eh nicht von Journalismus sprechen kann, sehen die Nachrichtensendungen halt entsprechend aus. ;)
Wohingegen so etwas im Deutschlandradio eher selten passieren wird, die sammeln, checken und filtern den ganzen Kram weg, der nur im ersten Moment wichtig erscheint.
Hier noch ein weniger schönes Beispiel von der Tagesschau-Seite:
„EU-weiter Alarm gemeldet
Nach einem Zwischenfall im Kühlsystem des slowenischen Atomkraftwerks Krsko hat die EU-Kommission laut Agentur AFP europaweiten Alarm ausgelöst.”
Keine weiteren Informationen. Ich meine was soll ich jetzt mit der Meldung? Fenster zumachen? :P
Bevor man dazu nix näheres weiß sollte man solche Meldungen lieber weglassen. Dient schließlich nur der Verunsicherung der Bevölkerung.
Ganz genau, daran habe ich gerade auch gedacht. Es gab nur *eine* Meldung *einer* Agentur, das hauen dann alle, aber wirklich alle, einfach so raus. Hauptsache schnell dabei bei der Sensation. Wenn das keine Verfallserscheinung ist, dann weiß ich es auch nicht.
Ich will ja jetzt nicht über die Kollegen des angesprochenen Senders lästern. Aber ganz allgemein erledigt sich die eine oder andere Aufregung ja auch schon mal durch Nichtstun bzw. Abwarten. So gesehen hat die Tagesschau es auch einfach, nicht jeder durch Dorf getriebenen Sau hinterherhecheln zu müssen: Redaktionsschluss ist 19:45 (oder wann auch immer er ist), und wozu es keine Bilder gibt, ist ohnehin nicht so wichtig.
Nach Auskunft von Marlon, 6 Jahre, schwarz, vierbeinig und selbst Kater, ist eine Katze auf dem Baum aber durchaus ein gewaltiges Event. Wenn nur damals nicht diese Operation gewesen wäre...
Heute, am 14. Juni, wäre "Ernesto »Che« Guevara":http://de.wikipedia.org/wiki/Ernesto_Guevara 80 Jahre alt geworden, wenn ihn nicht die Büttel des so genannten »Freien Westens«, die von der CIA tatkräftig unterstützten Regierungstruppen der bolivianischen Militärdiktatur, am 9. Oktober 1967 ermordet hätten. So wurde Che, nicht zuletzt durch das legendäre "Foto von Alberto Korda":http://www.art-for-a-change.com/Month/korda.htm, in den 60ern, 70ern und 80ern eine Ikone des Aufbegehrens gegen die verkrusteten Strukturen des »Freien Westens«. Und dann schließlich in diesem Jahrtausend vorwiegend eine Pop-Ikone, die von unpolitischen jungen Leuten auf ihrem T-Shirt spazieren getragen wird, ohne dass sie auch nur den leisesten Schimmer hätten, wer das ist und wofür er stand. Die Konsumgesellschaft rezipiert halt nur noch ironisierend oder stilisierend.
Che dient darüber hinaus aber auch heute noch als Reibungs- und Projektionsfläche für das konservative Spektrum. Exemplarisch dafür ist das "Essay des bei seinem politischen Flankenwechsel, von ganz links außen kommend, mittlerweile an der rechten Seite bei Springers WELT angekommenen Thomas Schmid":http://www.welt.de/welt_print/article2102395/Ein_moerderischer_Bohemien.html. Comandante Che als Ventil zur nachträglichen Abrechnung mit den eigenen Jugendsünden.
Selbstverständlich darf man das Wirken Ches, wie das jeder historischen Figur, nicht losgelöst von seiner Zeit betrachten. In den 50ern und 60ern gefiel sich der »Freie Westen« in seiner antikommunistischen Hysterie in der Unterstützung von dem Kapitalismus wohl gesonnener brutaler Militärdiktaturen in Südamerika. Nur in diesem Kontext ist seine Härte im Umgang mit Gegnern der Revolution zu verstehen und zu bewerten, und nicht aus der heutigen Perspektive des mit der Welt in seinem Laptop verbundenen Couchtheoretikers des globalisierten Kapitalismus, der mit dem Ende des Staatssozialismus in Osteuropa auch den Lauf der Geschichte für abgeschlossen hält und sich nun anschickt, die Geschichte des 20. Jahrhunderts und seine Akteure nachträglich in »Gut« und »Böse« einzuteilen. Weil bekanntlich immer der Sieger die Geschichte schreibt.
Che mahnt uns mit der ganzen gnadenlosen Härte und Konsequenz seines Handelns dazu, sich auch im 21. Jahrhundert nicht mit einer ungerechten Welt abzufinden, sondern an einer besseren zu arbeiten. In diesem Sinne: Cumpleaños Feliz, Comandante!
Noch ein paar Links:
"Che 1928-2008.":http://che.twoday.net/ Schöne Sammlung in Blog-Form zum Geburtstag.
"Canciones y poesías musicalizadas dedicadas o alegóricas a Ernesto Che Guevara.":http://www.sancristobal.cult.cu/sitios/che/canciones.htm Eine üppige Liste mit Liedern im MP3-Format, die Che gewidmet sind.
"Junge Welt: »Wir erlernten die Kunst des Krieges mitten im Kampf.« Erinnerungen an Che Guevara. Fidel Castro im Gespräch mit Ignacio Ramonet.":http://www.jungewelt.de/2008/06-14/030.php
"Junge Welt: 80 Jahre Che.":http://www.jungewelt.de/2008/06-14/004.php Foto-Reportage.
"Einige Schriften Che Guevaras.":http://www.nadir.org/nadir/initiativ/che_mahir/che.htm
"Die Netzeitung zum Geburtstag.":http://www.netzeitung.de/spezial/zeitgeschichte/1052897.html
Sehr schöner süffisanter Artikel der futurezone - "»Im Reich der Wikikraten«":http://futurezone.orf.at/it/stories/287781/:
bq. »Und Qualitätssicherung, so der promovierte Mathematiker [Wikimedia-Vorstandsmitglied Philipp Birken, RG], habe für ihn vor allem etwas mit Löschen zu tun. [..] In letzter Instanz entscheiden die 200 Administratoren über den Verbleib eines Artikels; meist Männer, alleinstehend, zwischen 20 und 35 Jahre alt […].«
Es ist mein Eindruck, dass viele der in Wikipedia aktiven »Löschfreunde« dort Kompensation, für was auch immer, suchen. "Wikipedia":http://de.wikipedia.org/ ist auf einen unguten Weg. Und das nicht nur wg. der Löschfreudigkeit, "kommerzielle Aktivitäten":http://www.gulli.com/news/wikipedia-bertelsmann-druckt-2008-04-22/ und "Personalrochaden mit »Geschmäckle«":http://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer:Kurt_Jansson#Engagement_f.C3.BCr_Spiegel_Wissen kommen hinzu. Es scheint, dass die besten Zeiten der Wikipedia vorbei sind und sie sich auf einem durch ihren eigenen Erfolg begründeten Weg in den Abgrund befindet. Die Spiegel-Bertelsmann-Geschichten sind nur eine »Geschmackssache«, das wirkliche Problem sind die »Männer, alleinstehend, zwischen 20 und 35«, die sich mit ihrer administrativen Macht eine Wikipedia nach ihrem Gutdünken formen.
6 Kommentare
Sebastian am 24.06.2008:
Die deutsche Wikipedia ist ein Witz. Ich habe einmal ein englisches Template für Start-Ups ins deutsche Wikipedia importiert, es wurde gelöscht mit dem Kommentar "So ein schwachsinniges Template hab ich ja noch nie gesehen!".
Wer Informationen will, sollte zur englischen Wikipedia gehen - die ist noch demokratisch aufgebaut, da zählt die Meinung des Einzelnen noch etwas.
Vielleicht erweitert sich ja im Moment die Hierarchie der anstrebenswerten deutschen Machtpositiönchen:
1. Position in Unternehmensvorständen
2. Entscheidungsposition in Parteien
3. Entscheidungsposition in politischen Verbänden/Gewerkschaften
4. Vorstandspöstchen in Vereinen (von Sport über Kleingarten bis Kleintierzucht)
5. Wikipedia-Administrator
Das die de. eine an anderen Qualitätsanspruch hat, vielleicht elitärer, ist sicherlich so.
Es gibt aber auch viele Stimmen die in diesem ständigen Ringen im Content eben den Grund für eine hohe Qualität sehen.
Überlässt man ein Wiki der totalen Anomie klappt das nicht. Auch die en. wird administriert, wenn auch anders.
Das "kein Platzmangel" wird schon lang in der WP argumentiert, aber sollte man doch der aktiven community überlassen.
Und wenn alle Kritiker, die der WP Hochnässigkeit anhängen doch endlich mal eine eigene xxxpedia aufmachen würden, wäre die Diskussion obsolet. Nimm die freie Software, nimm die gesamte DB und los gehts.
klml, das digitale Gegenstück zum »geh doch nach drüben« vergangener Zeiten? ;)
Mit Qualität hat das Theater weniger zu tun, es ist ja nicht so dass die gelöschten Artikel alle schlecht wären. Eher mit rigiden Regeldenken à la »erst wenn ein Autor zwei Bücher verkauft hat, ist er es Wert, einen dt. WP-Artikel zu bekommen«. LOL.
Über die Motivation kann man nur spekulieren, vielleicht »lexikonfein« machen damit man im Kreise der überkommenen Tote-Holz-Enzyklopädisten nicht immer als »Schmuddelkind« verschrien wird und evtl. noch den einen oder anderen Deal mit Verlagen machen kann, wer weiß?
Jedenfalls offenbrat »geh doch nach drüben« als Alternative eine arg schlichte Denke.
> klml, das digitale Gegenstück zum »geh doch nach drüben« vergangener Zeiten? ;)
vielleicht, aber es ist heute einfacher. Und hier geht es um keine gemeinschaftliches Belangen (Staatsordnung etc), sondern um das Webangebot einer 'community'
> Mit Qualität hat das Theater weniger zu tun, es ist ja nicht so dass die gelöschten Artikel alle schlecht wären.
Und wie definierst Du Qualität? Die ISO 9000 sagt z.B. das man diese Qualität für sich selbst festlegen muss. Das tut die WP.
> Über die Motivation kann man nur spekulieren, vielleicht »lexikonfein« machen damit man im Kreise der überkommenen Tote-Holz-Enzyklopädisten nicht immer als »Schmuddelkind« verschrien wird
Als »Schmuddelkind« wird sie immer verschrien, aber das hat die WP noch nie gestört; der Reichweite-Erfolg entspannt.
> und evtl. noch den einen oder anderen Deal mit Verlagen machen kann, wer weiß?
Sicherlich nicht. 'deals' mit Verlagen laufen eh (Wikipress, Spiegelwissen), das ist kein Motivationsgrund.
> Jedenfalls offenbrat »geh doch nach drüben« als Alternative eine arg schlichte Denke.
Ja das ist schlicht. Soll heißen, wenns Dir nicht passt mach es doch besser. Die WP ist kein sozialstaatliches Angebot auf das die reine Leserschaft einen demokratischen Einfluss hat. Die WP-Community ist wie eine Straßengang in die man durch (imho) qualitiativer™ Schreibleistung mehr Einfluss bekommt. Da sind aber auch schon viele frustiert wieder abgezogen (hauptsächlich aber Exklusionisten, die eben die Qualität zu lasch fanden).
Warum willst Du das Projekt Wikipedia von außen ändern? Was die WP macht, ist die alleinige Entscheidung dieser unkonkreten Masse an Community. Du gehörst nicht dazu und kannst diese auch nicht ändern. Aber Du kannst, mit all den anderen Inklusionisten, was neues aufmachen. Das ist aber nicht so gemeint wie »geh doch nach drüben« sondern ernst. ich hab leider noch kein erfolgversprechedes offeneres Projekt gesehen. Die Elitären hab das schon öfters probiert (wikiweise schon 2004, citizendium.org 2006), beide tun sich schwer.